Kirk Wetters: The Short Spring of German Theory (I): POSITIVISMUSSTREIT VS. POETIK UND HERMENEUTIK

Transatlantic Theory Canons

In present-day Germany, research on postwar academia, up through the 1960s and beyond, requires no special justification. But from the North American side, the point of this scholarly activity—including the many new editions and a flood of archive-based publications—is much less obvious. For the most well-established figures of the period, the primary international canonizations were already part of the first waves of the reception, the theoretical tectonics established themselves accordingly, and the theories were established as theories—which are in many quarters presumed to be just as reliable today as they were decades ago. One might say that the international and North American reception of European theory has manifested an overall tendency toward sedimentation, while the dynamic of scholarly research about theory, including the archival unearthing of new sources, tends to complicate and undermine the established corpus of “primary texts.” For example, not only does the quantity of new German publications on (and by) figures like Hans Blumenberg or Siegfried Kracauer widen the rift and amplify the asynchrony between North American and German academic cultures, it also heightens awareness for the fact that these somewhat “second tier” figures were extremely important all along. „Kirk Wetters: The Short Spring of German Theory (I): POSITIVISMUSSTREIT VS. POETIK UND HERMENEUTIK“ weiterlesen

Dirk Naguschewski: DIVERSITÄT, PHILATELISTISCH

I.

Briefmarke der Deutschen Post zu 85 Cent. Mittig ist eine aus bunten Symbolen geformte Deutschlandkarte zu sehen, links der Schriftzug »Vielfalt in Deutschland«.
Abb. 1: Sondermarke »Diversität. Vielfalt in Deutschland«, Entwurf: Bettina Walter*

Seit mehr als 40 Jahren erscheinen in Deutschland Briefmarken, die sich dem widmen, was wir heute gesellschaftliche Vielfalt oder Diversität nennen. Im November 2022 wurde unter dem Titel »Vielfalt in Deutschland« eine neue Marke präsentiert. An deren Motiv, vor allem aber ihrer Präsentation durch die Deutsche Post DHL Group (wie die Deutsche Post heute offiziell heißt) wird deutlich, wie schwer es ist, zeitgemäße Bilder für ›Diversität‹ zu finden. 1981 gab es zum ersten Mal eine Sondermarke mit dem Bild zweier Familien und der auch als Aufforderung zu verstehenden Aufschrift »Integration ausländischer Arbeitnehmerfamilien«. Dass Deutschland ein Einwanderungsland sein könnte, wurde seinerzeit noch hartnäckig bestritten. In den Jahren nach der deutschen Einheit entwickelte sich dann der als Fremdenfeindlichkeit diskutierte Rassismus zu einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung. In Hoyerswerda und anderorts wurden mehr und mehr Menschen (vermeintlich) nichtdeutscher Herkunft angegriffen, woraufhin 1994 eine Marke mit unmissverständlichem Appellcharakter erschien: Elf Menschen unterschiedlicher Haut- und Haarfarbe stehen nebeneinander und halten gemeinsam ein Banner vor sich, auf dem »Miteinander leben!« zu lesen ist. 2012 verausgabte die Deutsche Post eine Briefmarke, die das Motiv der gesellschaftlichen Diversität zum dritten Mal aufgriff. Auf dem Klingelschild einer Gegensprechanlage sind sechs Namen zu lesen, die von mutmaßlich unterschiedlichen Herkünften und nachbarschaftlichem Zusammenleben erzählen: Yilmaz, Kaminski, Hanke, Peters, Krüger und Tozzi. Als Aufschrift ein Claim, der von dem gemeinsam zurückgelegten Weg kündet: »Vielfalt« und »in Deutschland zu Hause«.[1] „Dirk Naguschewski: DIVERSITÄT, PHILATELISTISCH“ weiterlesen

Orit Halpern / Robert Mitchell: RETHINKING SMARTNESS

Becoming a “smart city”

Like many metropolitan centers around the world, Berlin aspires to be a “smart city.” Making a city smart usually involves constructing a dense net of sensors, often embedded in and around more traditional infrastructures throughout the urban environment, such as transportation systems, electrical grids, and water systems. The process also requires the city to solicit the distributed input of its inhabitants through active technological means, such as smart phone apps. Finally, the city employs high-end computing and learning algorithms to analyze the resulting data, with the goal of optimizing urban technical, social, and political processes. Yet, perhaps counter-intuitively, a smart city is not synonymous with a utopian—or even a specific—form of the city, which would then remain stable for the foreseeable future. In this sense, the smart city is quite unlike utopian cities as they were imagined in the past, when it was presumed that a specific form—such as Le Corbusier’s “Radiant City” or the concentric circles of Ebenezer Howard’s garden cities—would enable a specific goal, such as integration of humans into natural processes, or economic growth, or an increase in collective happiness, or democratic political participation. Rather, a city is “smart” when it achieves the capacity to adjust to any new and unexpected threats and possibilities that may emerge from the city’s ecological, political, social, and economic environments (a capacity that is generally referred to in planning documents with the term “resilience”). In short, a smart city is a site of perpetual learning, and a city is smart when it achieves the capacity to engage in perpetual learning. „Orit Halpern / Robert Mitchell: RETHINKING SMARTNESS“ weiterlesen

Alexandra Heimes: DER EINSATZ NEUER TECHNOLOGIEN IM HUMANITARISMUS UND DIE ›FRAGE NACH DER MORAL‹

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben rasante technologische Entwicklungen die Seefahrt insgesamt und damit auch das nautische Rettungswesen von Grund auf verändert. Mit motorisierten Booten, Funk- und Radartechnik – und später Rettungsflugzeugen – wird es möglich, neue notlindernde und lebensrettende Praktiken zu etablieren, die Effizienz der Maßnahmen zu steigern und zudem den geografischen Radius der Einsätze erheblich auszuweiten. Weniger offenkundig ist, in welcher Weise diese Entwicklungen auf das Gefüge der Normen und Werte zurückwirken, das der humanitären Seenotrettung zugrunde liegt, und inwiefern sie daran beteiligt sind, den Schiffbruch als einen bestimmten »Situationstyp« zu definieren.[1] Diese Aspekte bilden den Ausgangspunkt meiner Untersuchung, die der Frage nachgeht, wie sich die Herausbildung von Normen und normsetzenden Paradigmen alternativ zu den großen Erzählungen des Humanitarismus beschreiben lässt. „Alexandra Heimes: DER EINSATZ NEUER TECHNOLOGIEN IM HUMANITARISMUS UND DIE ›FRAGE NACH DER MORAL‹“ weiterlesen

Ernst Müller: LAZAR GULKOWITSCHS FRÜHE GRUNDLEGUNG DER BEGRIFFSGESCHICHTE

Die erste Monografie, die sich ausdrücklich und titelgebend mit der »begriffsgeschichtlichen Methode« befasste, stammt von dem jüdischen Religionswissenschaftler Lazar Gulkowitsch (1898–1941). Vier Jahre vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten veröffentlichte er 1937 Zur Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode in der Sprachwissenschaft in einer deutschsprachigen, der Wissenschaft des Judentums gewidmeten Reihe, die an der Universität Tartu (Dorpat), dem Ort seines estnischen Exils, erschien.[1] Obwohl sich in den letzten Jahren verschiedene Publikationen Gulkowitsch und seinem Werk widmeten,[2] ist seine Schrift zur Begriffsgeschichte selbst dem Fachpublikum dieser geisteswissenschaftlichen Methode unbekannt geblieben, ebenso wie die zahlreichen Untersuchungen, in denen er die Begriffsgeschichte auf den Begriff ›Chassid‹ (Frommer) sowie den Chassidismus[3] anwandte. Gulkowitsch entwickelte dort an Konzepten der jüdischen Geistesgeschichte eine speziell auf die Geschichte des Judentums bezogene Theorie der Begriffsgeschichte, die aber zugleich mit dem Anspruch einer universalistischen Metatheorie der Geistesgeschichte für verschiedene Kulturen antrat. „Ernst Müller: LAZAR GULKOWITSCHS FRÜHE GRUNDLEGUNG DER BEGRIFFSGESCHICHTE“ weiterlesen

Henning Trüper: SEENOT IM ARCHIPEL DER HUMANITARISMEN

Als 2008 die Finanzkrise eskalierte, vollzog sich eine irritierende Veränderung in der Semantik von ›Rettung‹. Während nämlich einerseits unbedingte Imperative der Rettung finanzieller und fiskalischer Institutionen aufkamen, whatever it takes, wurde andererseits der Rettungsimperativ für Menschen in Seenot immer problematischer. Insbesondere im Kontext von Flucht und Migration im Mittelmeerraum begannen Regierungen, humanitäre Rettungsbemühungen zu kriminalisieren, während sie doch zugleich unterlassene Hilfeleistungen ebenfalls strafrechtlich verfolgten. Über lange Zeit hatten Schiffbrüchige im öffentlichen Diskurs die Stelle als privilegierte Zielobjekte unbedingter Rettungsimperative besetzt, die sogar das Risiko eines Selbstopfers in Kauf zu nehmen verlangten. Nun schien es, als sei diese Stelle umbesetzt worden. Dass eine solche Umbesetzung aber überhaupt möglich war, warf nicht zuletzt die Frage danach auf, wie es eigentlich um die Geschichtlichkeit derartiger Imperative insgesamt bestellt ist. Diesem Problemzusammenhang geht das Forschungsprojekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800« nach, indem es unter anderem untersucht, wie die Schiffbrüchigen überhaupt dazu gekommen waren, die fragliche Stelle zu besetzen. „Henning Trüper: SEENOT IM ARCHIPEL DER HUMANITARISMEN“ weiterlesen

Nebiha Guiga: SOZIALE LEBENSWELTEN UND DER ALLGEMEINE HUMANITARISMUS

Abb. 1: Farbige gusseiserne Spendenbüchse in Form eines überdachten Rettungsbootes der Hospitaliers Sauveteurs Bretons, Rennes, Musée national de la Marine, Paris, CC BY-SA 4.0

Frankreichs Seenotrettungsgesellschaft, die Société Nationale de Sauvetage en Mer (SNSM), geht auf einen Zusammenschluss zweier Einrichtungen zurück, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ursprünglich unterschiedlichen Zielsetzungen entstanden sind: Die Société Centrale de Sauvetage des Naufragés (SCSN) wurde 1865 unter der Schirmherrschaft von Kaiserin Eugénie speziell zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet. Der 1873 im bretonischen Rennes gegründeten Société des Hospitaliers Sauveteurs Bretons (SHSB) hingegen ging es allgemein um die Rettung von Menschen, die unverschuldet in Not geraten waren (Abb. 1, Spendenbüchse). Die Seenotrettung war für diese Gesellschaft also nur Teil eines weit größeren Projekts. So sahen die umfangreichen Regularien der SHSB den Aufbau einer Verwaltung vor, zu der auch Priester und Ärzte gehörten, die sich um das Wohlergehen aller Beteiligten kümmern sollten. Eine eigene Sektion zu Disziplinarmaßnahmen legte sogar Strafen für Gewalt gegen Tiere oder Mangel an Höflichkeit fest. Doch schon nach wenigen Jahren konzentrierte sich die SHSB entgegen ihrer ursprünglichen Zielsetzung fast ausschließlich auf die Rettung schiffbrüchiger Seeleute. In dieser Entwicklung zeigt sich eine Spannung, ein erklärungsbedürftiges Missverhältnis zwischen dem ursprünglichen, allgemeinen humanitären Anspruch und der praktischen Umsetzung konkreter Maßnahmen. „Nebiha Guiga: SOZIALE LEBENSWELTEN UND DER ALLGEMEINE HUMANITARISMUS“ weiterlesen

Eva Geulen: DISTANT READING UP CLOSE: Moretti zieht Bilanz

Die Digital Humanities (DH) haben enorme Erfolge zu verbuchen: Fördermittel, technische Ausstattung, Professuren, Studiengänge. Das Digitale ist aus unseren Fächern längst nicht mehr wegzudenken. Gerade weil die »Wende« auf breiter Front gelungen ist, fällt in Franco Morettis Buch zuerst die Enttäuschung der Erwartungen aus den Nullerjahren ins Auge, als die DH noch »quantitative Literaturwissenschaft« hießen (Falsche Bewegung. Die digitale Wende in den Literatur- und Kulturwissenschaften, übers. von Bettina Engels, Konstanz: Konstanz University Press 2022). Ausgerechnet der Autor, der uns 2009 in seinem Buch Kurven, Karten, Stammbäume mit originellen Anwendungsmöglichkeiten datengetriebener, messender Literaturwissenschaft die Augen geöffnet und Hoffnungen auf ganz andere Literaturgeschichten gemacht hatte,[1] bilanziert jetzt Verluste und »Illusions perdues«[2]: abgebrochen die Verbindung »zur großen theoretischen Tradition des 20. Jahrhunderts« (9), der erhoffte »intellektuelle[] Schlagabtausch« (164) zwischen close und distant reading, Hermeneutik des Einzelgebildes und quantitativer Analyse fand nicht statt. Die »Lawine kleinerer Studien« blieb »ohne jede geistige Synthese« (165). »Die Literaturforschung wurde mathematisiert – und verlor darüber alle wissenschaftlichen Ambitionen« (ebd.). Und verloren ging auch ein Konzept der »Form« (9). „Eva Geulen: DISTANT READING UP CLOSE: Moretti zieht Bilanz“ weiterlesen

Lukas Schemper: HUMANITARISMUS UND SOUVERÄNITÄT

Die Rettung von Menschenleben ist eine von vielen Aktivitäten, deren Regelung souveränen Staaten obliegt. Historisch betrachtet gibt es verschiedene Definitionen von Souveränität. Seit dem 19. Jahrhundert bedeutet sie jedoch überwiegend die Kontrolle von Grenzen und die Verabschiedung von Gesetzen innerhalb derselben. So lassen sich die vielfältigen Verbindungen des Begriffs der Souveränität mit der Geschichte des Schiffbruchs und der Lebensrettung im 19. Jahrhundert auf zweierlei Weise untersuchen: Erstens ausgehend von der Souveränität als einer Form der rechtlichen, (bio)politischen, diplomatischen, territorialen bzw. maritimen Kontrolle, die zunehmend mit humanitären, kommerziellen und sicherheitspolitischen Fragen verknüpft wurde; zweitens anhand der Figur des Souveräns, der als Schirmherr und Förderer humanitärer Initiativen, einschließlich der Seenotrettungsgesellschaften, fungierte und für die Entstehung und das Selbstverständnis dieser Gesellschaften von zentraler Bedeutung war. „Lukas Schemper: HUMANITARISMUS UND SOUVERÄNITÄT“ weiterlesen

Jonathan Stafford: DIE VISUELLE KULTUR DES SCHIFFBRUCHS UND DER MORALISCHE BETRACHTER

Pierre-Jacques Volaire (1729-1799), Shipwreck, Nationalmuseum, Stockholm
Abb. 1: Pierre-Jacques Volaire (1729–1799), Shipwreck, Nationalmuseum, Stockholm

Das Bild eines Schiffbruchs (Abb. 1): das Schiff selbst links im Bild, ein Durcheinander aus zerfetztem Segeltuch und zersplitterndem Holz, Seeleute, die verzweifelt um ihr Leben kämpfen, sich an Teilen des Schiffs festklammern oder flehend den Mast in Richtung des Himmels hinaufklettern. Das Schiffswrack liegt bedrohlich nahe am felsigen Ufer, das Gefahrenstätte und Zufluchtsort zugleich ist. Die wilde See bricht über die Felsen herein – an manchen Stellen macht der mächtige Sturm es nahezu unmöglich, Wasser, Himmel und Land zu unterscheiden. Eine Rettungsleine verbindet das Schiff mit dem Ufer. Andere Figuren versuchen, den in Not geratenen Seeleuten zu helfen, mit Gebeten, aber auch mit praktischen Maßnahmen, etwa der Sicherung des Seils. In der Mitte des Bildes, auf die das Licht der durch die düsteren Wolken hereinbrechenden Sonnenstrahlen unsere Aufmerksamkeit lenkt, kämpfen Menschen um ihr Überleben. Vier Gestalten versuchen, eine Frau in Sicherheit zu bringen. Ihre Brust ist entblößt und der leblose Körper hängt schlaff herab, eine deutliche Referenz auf die Pietà. Ist sie schon tot oder kann sie wiederbelebt werden? Und was ist mit jenen, die sich noch an Bord befinden? Werden sie es schaffen, das rettende Ufer zu erreichen? „Jonathan Stafford: DIE VISUELLE KULTUR DES SCHIFFBRUCHS UND DER MORALISCHE BETRACHTER“ weiterlesen